»Die Wiese war über und über mit Blumen bewachsen«

Eröffnungsrede von Jörg Metes
zur Waechter-Ausstellung im Karikaturmuseum Krems, 10.11.2007

Anfang der 60er Jahre – er war damals Mitte zwanzig – hat Friedrich Karl Waechter diesen Satz unter eine Tuschezeichnung geschrieben. Die Wiese war über und über mit Blumen bewachsen. Die Zeichnung zeigte, so lange man auch hinsah, einfach nur das und nichts anderes: eine über und über mit Blumen bewachsene Wiese. Ende der 70er nahm Waechter die Zeichnung in ein Buch auf, das bald zum Bestseller werden sollte: Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein. Anfang der 80er Jahre bereiste Robert Gernhardt ein Land, in dem es dieses Buch freilich gar nicht zu kaufen gab: die damals noch existierende DDR. Und trotzdem hörte er eines Tages in Weimar plötzlich diesen Satz. Die Wiese war über und über mit Blumen bewachsen. Der Satz kam aus einer Gruppe von Jugendlichen in einem Linienbus. Gernhardt horchte auf. Unter großem Gelächter riefen die Jugendlichen sich noch mehr ihm wohlbekannte Sätze zu. Der König möcht kegeln, oder: Die Eule hatte zu Weihnachten einen Norwegerpulli bekommen und war einer der schicksten Vögel im Walde. Es waren allesamt Sätze aus Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein. Die Jugendlichen hatten das Buch nicht bei sich. Sie kannten es offenbar auswendig.

Gernhardt kam nach Frankfurt am Main zurück und erzählte uns davon und meinte, daß er in diesem Moment überhaupt erst begriffen habe, wie groß Waechters Wirkung war. Und in der Tat: Junge Zeichner, die nach Frankfurt zu Waechter gepilgert kamen, waren wir mittlerweile gewohnt; von Jugendliche im Osten, die sich mit Waechter allem Anschein nach besser auskannten als mit Westfernsehen, hörten auch wir zum ersten Mal.

Irgendwann war Waechters Wirkung sogar so groß, daß es ihm zuviel wurde. Immer mehr Zeichner nahmen sich Waechter zum Vorbild. Man konnte es ihnen nicht vorwerfen, und Waechter tat es auch nicht. Waechter war ein Entdecker und Pionier, und daß andere ihm folgten, war natürlich. Er war – was bei Künstlern sehr selten ist – in keiner Weise eifersüchtig oder konkurrent. Aber ein wenig leid wurde er es manchmal doch. Da ging er über die Frankfurter Buchmesse und sah die zahllosen Kinder– und Cartoonbücher in Waechterscher Manier und verlor die Lust. Und er kam zurück an den Stand der Titanic, setzte sich zu mir und seufzte: »Ich höre auf zu zeichnen. Alle waechtern.«

Das war Mitte der 80er Jahre. Alle waechterten, aber keiner konnte es so gut wie er. Kein anderer konnte so meisterhaft wie er ein schlichtes Oberhemd zeichnen, das einfach nur frischgebügelt am Bügel hing – um dann als erklärende Zeile darunterzuschreiben: Unter Drogeneinfluß gebügeltes Hemd. August 1989. Kein anderer konnte so ausdrucksstark wie Waechter Gefühlskonflikte darstellen wie etwa den eines Hirschen, der es sich einerseits in einem behaglichen Lesesessel bequem gemacht, sich andererseits zum Lesen aber ein Buch vorgenommen hat, das ihn mit größtem Zorn erfüllt: Witze auf Kosten von Hirschen.

Es sind große Gefühle, die bei Waechter immer wieder hervorbrechen, und zwar meistens in Momenten, die sich fürs Hervorbrechen wenig eignen. Die Kleinen wollen Größe zeigen, die Großen klein sein dürfen. Daß Waechter, als er das Zeichnen Anfang der 90er Jahre tatsächlich eine Zeitlang ganz einstellte, sich dann aufs Theatermachen verlegte, war folgerichtig. Waechter war ein dramatischer Künstler und ein Sprachkünstler ja sowieso. Wenn er wollte, konnte er uns in die Sehnsüchte eines Salzstreuers hineinversetzen, oder uns Respekt einflößen vor der Tapferkeit eines Milchkännchens.

Wenn er vor einem stand und man ihn nicht kannte, sah man es ihm nicht an. Waechter war in Gesellschaft eher still und zurückhaltend und scheu. Im Gasthaus zum Beispiel hatte er immer wieder Schwierigkeiten, den Kellner auf sich aufmerksam zu machen. Die Runde schien bestellt zu haben, der Kellner wandte sich ab – aber der, den er übersehen hatte, war wieder einmal Waechter.

Kleine Runden waren Waechter lieber. Runden, in denen weniger geredet als vielmehr gezeichnet wurde. So manches seiner Blätter ist hervorgegangen aus Treffen, bei denen man sich im kleinen Kreis Skizzen hin– und herschob. Wer zu einer Skizze die Pointe fand, durfte sie mitnehmen und ausarbeiten. Waechter durfte sich immer viele mitnehmen. Er war ein leidenschaftlicher Arbeiter. Er freute sich jeden Morgen auf seinen Zeichentisch. Er ging nach dem Frühstück nicht einfach hinauf ins Dachgeschoß, wo der Zeichentisch stand – er stürmte die Treppen hoch. Beneidenswert sportlich war er ja auch noch.

Die Wiese war über und über mit Blumen bewachsen. Wir stehen vor einer Zeichnung, auf der wie gesagt genau das zu sehen ist, und sind irgendwie verlegen. Wir wissen, wie das ist. Wir kennen die Situation. Wir erleben einen großen Moment und sind überwältigt – vom Anblick einer eine blühende Wiese, von einem wunderbaren Sonnenuntergang, von einem großen Kunstwerk –, aber wir wissen nicht, was wir sagen wollen. Wir müssen etwas sagen. Unsere Gefühle sind einfach zu groß. Aber was? Alles, was wir sagen können, fällt gegen das, was wir sehen, nur ab. Wir kommen aus der Waechter–Ausstellung im Karikaturmuseum Krems und stehen wieder vor diesem Problem. Es hat uns die Sprache verschlagen. Am gescheitesten sagen wir vielleicht wirklich nur eins:

Die Ausstellung war über und über mit Waechters behängt.