Stark und schön

Wenn das Niedere überraschend das Höhere ist
oder: Warum der Zeichner Friedrich Karl Waechter ein Genie ist

F.K. Waechter: Waechter, Diogenes
Rezension von Gabriele Killert in Die Zeit, 52, 18.12.2002
(hier in ungekürzter Manuskriptfassung)

Wenn einer soviel kann, sollte man nicht von »Doppelbegabung« sprechen. Damit mögen die sich trösten, die sich ja sonst nichts gönnen. Sagen wir lieber: Waechter macht nicht gern halbe Sachen. Zeichnen und Schreiben, das gehört bei ihm zusammen. Vielleicht so: er sieht etwas, und es summt etwas in ihm. Oder umgekehrt. Und das zeichnet er dann. »Seht ihr den Frosch dort sitzen?/ er muss sich etwas stützen/ und ist doch stark und schön./ So sind wohl manche Sachen,/ die wir getrost belachen,/ weil wir sie besser nicht versteh’n.«

Den Frosch und neben ihm den Spatz, der ihn ein bisschen stützt. Das Huhn, das seinen Fussabdruck bestaunt. Den bedrängten Nacktschneck im Schuh. Wir sehen im prächtigen Jubiläumsband Waechter (zum 65. Geburtstag) überhaupt alle wieder, die wir schon lange ins Herz geschlossen haben. Wir sehen den Bär auf dem Siegertreppchen, der weiß Gott stark und schön ist und doch nur »Drittbester im Brummen«. Und wer sie einmal angeschaut mit Augen, dem geht die Eule im Norwegerpullover nicht mehr aus dem Sinn. Da steht sie, still und staunend auf einem Ast, zweifellos »einer der schicksten Vögel im Walde«, Geäst und Tannenzipfel und das prächtige Norwegermuster in wundersamer Harmonie – und doch. Wer so ein Wämschen trägt, der ist schon ein Geworfener, aus dem Paradies ins kalte Dasein, ein zwittriger Gast auf Erden. Der sieht, untenrum Natur und darüber ins enge, kratzige Maschenwerk der Zivilisation gepresst, nolens volens ziemlich komisch aus. Und ist doch stark und schön.

Waechters Tiere: die Menschenliebe und das Zartgefühl kehren auf der Stelle zurück, wenn man sie ansieht, denn daraus sind sie ja ganz gemacht in ihrer privilegierten Unschuld, ihrem luftig gestrichelten oder getuschten Wesen. Sie mußten Härten erfahren, was der antike Chor und auch Grönemeyer sagt und singt: Leben ist unfair. Und es hat sie doch nicht hart gemacht, sondern beschaulich. Aus ihrem Blick spricht Staunen, stille Klage und ein Wissen um die Torheit aller Lösungen, die immer Teil des Problems sein werden. »Heißt das nicht gegen das Leben streben, wenn wir’s auch noch mit Sinn erfüllen wollen?« Diesen immensen Gedanken hat sich ein kontemplativer Schimpanse auf ein Blatt notiert. Das ist stark und schön und natürlich komisch, wenn das Niedere so überraschend das Höhere ist. In der Pupille des Affen, der uns so idealisch spiegelt und reflektiert, glänzt, was so stark und schön auch an Waechter ist: der poetische Widerschein seines Humors.

Das Grobianische des Menschen läßt Waechter lieber durch seinesgleichen verkörpern. Da gibt es schwere Trunkenbolde, die sich von winzigen Frauchen auf einem Balken schultern und herumschleppen lassen (»Nicht so schräg, Schlampe, mein Schnaps rutscht«), und tüchtige Fresser, in die oben ganz »schön was rein« geht und unten ganz schön was rauskommt. Aber es sind keine lichtvollen Gedanken. Der Mensch in Ausübung seiner Geschäfte, seiner Macht und seines Gemächtes. Der Mensch, das Schwein? Nein. Bei Deix und Haderer vielleicht. Bei Waechter nicht. Das Plumpe bleibt plump nicht, gemein nicht das Gemeine. Dem widerstrebt hier ein zarter, mozart’scher Kunstverstand, der etwas genuin Daseinsfrohes ist und eine Form des Glücks. Das Häßliche erscheint ihm als eine Form des Unglücks, des Missgeschicks. Daher gibt es bei Waechter wilde Slapsticks des Scheiterns, geschlechtliche und andere Ridiculitäten. Knisternde Komik, Bosheit, Streiche, Teufeliaden vom gutmütigen Geist und Zuschnitt des Pardon-Teufelchens, das Waechter schuf: Mütter quälen ihre Söhne, Männer ihre Frauen, Brüste ihre unstillbaren Liebhaber. Nie aber geschieht dies bei Waechter: Bilder quälen das Auge ihres Betrachters. Sobald er Feder oder Stift ansetzt, verwandelt sich alle Missgestalt in philantropische Heiterkeit der Linie, die erzählt, Cechov’sche Einakter in weitestgehend arabesker Verknappung. Das heißt, ohne die Dinge rüde ins Abstrakte weg zu stilisieren (wie eine ganze Karikaturisten-Generation vor ihm). Waechter stilisiert sie lieber herbei mit Lust an den physiognomischen Details des Dramatischen, an einer exquisiten zeichnerischen Modellierung des komischen Effekts.

Wir wollen und müssen all diese Sachen getrost belachen, da wir sie wirklich besser nicht verstehen. Es gibt ja nur diese beiden Optionen: das Nichtverstehen, also die Rechthaberei. Und eben das bessere Nichtverstehen, das man ›Humor‹ nennt: die gute innere Säftemischung oder Feuchtfröhlichkeit der Seele. Vis comica. Kraftquelle heiterer Selbstbehauptung im unsinnigen Dasein. Bei Waechter scheint die Mischung zu stimmen. Was da in ihm summt und die Fantastik in Gang setzt, ist der Strom eines karnevalistischen Weltempfindens.

Wenn zügellose Einbildungskraft, wie Kant meinte, Unsinn produziert, dann kann man nur sagen: wie schön. Wie käme er auch sonst ans Licht. Friedrich Karl Waechter ist unter den Nonsens-Produzenten bestimmt einer der Zügellosesten. Ein ganzes Paralleluniversum des Absurd-Komischen hat er in vier Jahrzehnten aufs Papier gebracht. Parallel zu Gott, den der kleine Fritz einst in Gummistiefeln und mit Jägerhütchen malte (ein test of ridicule, den wenige der zirkulierenden Gottesbegriffe bestehen dürften). Wobei Waechter nicht ohne Ehrgeiz daran arbeitet, dass seine Welt der des Jägerhütchen-Mannes durchaus zum Verwechseln unähnlich ist. Flußpferde im Einmachglas. Der tanzende Vier-Nasen-Mann. Die tolle Blasphemie »Max Brod verbrennt Kafkas Werk«. Die Klappstulle mit der Mettwurst, in die Mutter »wunderbare Verse« geritzt hat. So etwas gibt es nur bei Waechter. Das Wunderbare (schöner alter Kraftausdruck der Romantik) tritt hier überhaupt gern ins gewöhnliche Leben. Man muss nur spielen und träumen. Waechter spielt mit allem: Logik, Kausalität, Schwerkraft, Erwartungen, Klischees, Zeichenstilen- und Techniken. Von Grandville bis zu Steinberg, Topor, Sempé – wird da zitiert und parodiert, kopuliert und rekombiniert im Dienste und zum Lob des Unsinns in jeglicher Form, vom schlichten Mäuschenwitz bis zu sublimen sophistischen Späßen à la Daniil Charms: »Nacht für Nacht träumte sie, eine Henne läge unter ihrem Bett. Doch wenn sie aufwachte, war es genau umgekehrt.«

Vexierende Vexierbilder und Trompe-l’Oeil-Effekte entstehen so durch spielerische Verrückungen. Manchmal genügen ein paar vertauschte Fälle, und schon erhalten wir einen neuen verblüffenden Kasus in der Grammatik der Verhältnisse: »Adele zeigt ihren Brüsten die Männer.« Nicht das Übliche also: Männer begaffen, was Frauen begaffen lassen. Nein, schöner: zwei Brüste bestaunen mit grossen Brustwarzen-Augen ein Publikum von Männern, die Adele ihnen zeigt. Kleiner Fingerzeig, wie sich ohne große Verrenkungen utopisch-schöne dritte Wege, Fluchtwege aus dem Gewohnten und Gewöhnlichen finden lassen.

Man kann es nur als Glücksfall betrachten, dass F.K. Waechter nach einem kleinen Umweg über die Gebrauchsgraphik 1962 zu Pardon kam und wenig später F.W. Bernstein und Robert Gernhardt dazu stiessen. In langen Kneipenüberstunden nach sicher hartem Satire-Dienst, hoben die drei eine völlig neue Komik aus der Taufe, die unter dem Label Neue Frankfurter Schule zu Ruhm und Ehren gekommen ist. Adenauer-Ära. Man musste praktisch von vorn anfangen, mit einfachen Lockerungsübungen: »Der Kragenbär holt sich munter einen nach dem anderen runter.« Oder: »Am Abend hilft die Jägerin dem Jäger in die Negerin«. Das Labor, in dem solches Tonikum gemixt wurde, war WimS, Welt im Spiegel, die doppelseitige Humorbeilage von Pardon. Ein Programm gab es nicht, es sei denn dieses: the Comedy inside you freizusetzen. So flog Bernstein das geflügelte Wort zu: »Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche«. Ein Satz, der einer Satire, die sich allzu sehr ins Zeug legt, die rote Karte zeigt. Nicht Kritik des beschädigten Lebens tut Not. Das war die Not (und Wendigkeit) der alten Frankfurter Schule. Nicht Inventur, sondern Remedur! Abhilfe, Entlastung vom Falschen durch einen eudämonistischen Humor, der das Zeug hat, »den dumpfen trübseligen Ernst« aufzuweichen, »anzubröckeln«, wie Morgenstern es nannte.

Es geht ums Recht auf Glück, gegen alle behauptete Negativität. Nur ein Humor, der heiter und unzugänglich ist wie der jüngste Müllerssohn im Märchen oder in Waechters Kindergeschichte der alberne Hans, nur so ein in seiner Glückshaut unberührbarer Humor kann uns da raushauen. Wir sind ja geplagt und terrorisiert von trübseligem Ernst. Ernst des Lebens, der Gesinnungen schwerer Ernst-Menschen, die oft gar nicht ernst sind, sondern fröhlich über Leichen gehen. Der Kalauer dagegen sei unvereinbar mit dem Mord, hat Stendhal einmal gesagt.

Wer das Prinzip Übermut jederzeit dem Prinzip Hoffnung vorzieht, der muss sich in Waechters Komik heimisch fühlen. Sie ist unvereinbar mit dem Mord. Immer graziös, nicht kritisch, nicht demokratisch, sondern demokritisch. In ihr ist alles Spiel, Freiheit, Möglichkeit, Beweglichkeit, Tollheit. Und darin stimmt sie mit dem Leben überein.